Schreiben über Film (2): 100-Wörter-Texte
„Schreiben über Film“ – unter diesem Titel läuft ein Seminar, in dem Studierende der Universität Hildesheim zehn Tage lang Kritiken, Kommentare und Anmerkungen zu den Filmen des Berlinale-Programm verfassen. Aus dieser Produktion werden in den nächsten Tagen immer wieder einige Texte auf critic.de veröffentlicht. Wir bedanken uns herzlich und freuen uns über kritische Rückmeldungen. (Stefanie Diekmann)
Die Texte hatten zunächst nur eine strikt formale Vorgabe – sie sollten möglichst genau 100 Wörter lang sein. In der ersten Runde ging es dabei um von den Studierenden beliebig gewählte Filme. In der zweiten Runde sollten sie nach demselben Prinzip Eindrücke von der Berlinale 2013 schildern.
100 Wörter zu beliebig gewählten Filmen
La piscina (2011, Regie: Carlos Machado Quintela; Panorama Special)

Hamburgerwettessen, durch Augenkontakt angestachelt, bis Dany vor Anstrengung und Glück die Tränen aus den Augen laufen. Die Essensreste, die kokett zwischen den Zahnspangenbrackets der hübschen Diana hängen, erzählen Erfolgsgeschichten. Behinderte Kinder ziehen Bahnen in totalen Einstellungen: durch Wasser, über Beckenrandfliesen. Wir lachen doppelt: Weil es witzig aussieht, und verblüfft darüber, dass wir über Behinderte lachen. Nur der Himmel verändert sich und mit ihm das Wetter. Swimmingpool-Totalen in Pastelltönen, die wie Gemälde aussehen. Nach ein paar Minuten verändert sich doch was: Nebel löst sich auf, Regenwolken ziehen auf, Betonplatten trocknen wieder, die Lippen der Jugendlichen blau, wieder rot, blau.
Vera Klocke
Viola (2012, Regie: Matías Piñeiro; Forum)

Shakespeare, Improtheater, Frauen. Im Publikum: ein Gaffer. Vorstellungsschluss, Beziehungsgespräche, eine Wette zum Thema Liebe: Es folgt eine homoromantische Szene. Nach einem gelungenen Zickzacklauf zwischen vielen Figuren sieht man endlich Viola. Ist Viola die Protagonistin? Wir warten. Ja, Viola ist die Protagonistin. Wir begleiten Viola. Wir befinden uns in einem riesigen Beziehungsnetz, das Regisseur und Drehbuchautor Matías mit seiner aus Freunden bestehenden Crew gesponnen hat. Am Set und im Film kennt jeder jeden und jedes Detail im Film wird später noch einmal aufgegriffen. Der Glotzer ist Violas Freund. Ich meine war Violas Freund. PS: Filmpiraterie als Gelderwerb scheint zu rocken.
Hannah Seidel
Oben ist es still (Boven is het stil, 2013) Regie: Nanouk Leopold; Panorama)

Die Stille im holländischen Winter besteht aus Möwengeschrei, Wind in den Bäumen, dem sanften Prasseln des Regens auf Wellblech. In Oben ist es still fasst Nanouk Leopold die Einsamkeit eines Bauern und seines sterbenden Vaters in Bilder voll leiser Poesie. Die Haut des alten Mannes und die des jungen, Lämmer, frische Milch auf schmutzigen Fliesen – Bilder, die man förmlich riechen kann, gezeichnet in verwaschenen Winterfarben. Respektvolle Distanz und erschütternde Ehrlichkeit ergänzen einander. Die Gesichter, die Hände, die Gesten erzählen mehr als die kargen Dialoge. Ein Film, der es schafft, zu berühren, ohne dabei der Sentimentalität zu verfallen.
Laura Tamoj
frog spider hand horse house (2013, Regie: Shelly Silver; Forum Expanded)

Wolken. Ein Haus. Ein Vogel am Ast. Eine Gymnastikgruppe. Ein Bienenschwarm. Ein Pianist. Ein Pferd im Stall. Eine Fledermaus. Eine Statue. Jump Cut. Statue von links. Jump Cut. Statue von rechts. Zwei wartende Hunde. Ein Hund am Fluss. Eine Fledermaus. Eine Spinne. Chor. Vogelgezwitscher. Stille. Bienengebrumme. Stille. Kinderzeichnungen. Kröten. Autobahnauffahrten. Stille. Gruppentanz. Stille. Gesangsübung. Eine tote Kröte. Ein Kind mit Fahrrad. Ein Kind mit Buntstiften. Eine Turnhalle. Der Pianist. Eine mumifizierte Fledermaus. Eine kauende Ziege. Ein schlafendes Schaf. Stimmübungen. Stille. Grillengezirpe. Stille. Reihenhäuser. Eine Schlange im Gras. Eine Schlange in der Wiese. Ein totes Eichhörnchen. Ein singendes Kind. Fledermaus am Netzt. Schluss.
Laura Tille
100 Wörter Schilderung von Berlinale-Erfahrungen. Das konnten Filme sein, aber auch Erlebnisse rund um das Festival.
Fenster
Ich fahre durch ein Labyrinth mit vielen kleinen Fenstern. Jede dieser Scheiben eröffnet mir eine andere Sicht. Davor zunächst immer ein Vorhang, ein Trailer, ein paar Logos, der gleiche Akkord. Mal begebe ich mich in meine eigene Welt, mal erschließt sich mir eine ganz andere. Gehen zwei Fenster zu Höfen der gleichen bekannten Stadt hinaus, befinde ich mich später über Dächern unter fremdem Himmel. Die Menschen, auf die ich blicke, sind mir fremd, und trotzdem kenne ich sie. Die Dinge dort habe ich nie gefühlt, trotzdem kann ich etwas damit anfangen. Ich bin heute viel gereist, doch hab’ ich nur U- und S-Bahn benutzt.
Florian Brüggemann
Jogginghose

Berlinale, Tag vier. In Jogginghose in einen Film gehen. In Jogginghose keine Eintrittskarte haben. Währenddessen einen Styroporbecher mit Dunkin’-Donuts-Kaffee transportieren. Eine neue Freundin in der Schlange kennengelernt. Früher Lehrerin, heute Filmschaffende. Innerhalb von fünf Minuten auf den besten Sitzen des Saales gelandet, nur eine Reihe hinter der Crew. Neben dem Staunen über die Indifferenz gegenüber meiner Jogginghose inmitten so viel feiner Abendgarderobe auf einmal der Entschluss, nie wieder Karten im Vorfeld zu besorgen. Akkreditierung „59“ reicht völlig aus. Meine neue Freundin hat eine „63“. Am Ende des Tages: Meine Schwestern gesehen; eine Freundschaft geschlossen; Jogginghose erfolgreich ausgeführt.
Kathrin Maurer
Verpasst
Zeitvertreib vor dem Berlinale Palast. Es ist ziemlich kalt; ein Sicherheitsmann steht unter einem Heizgerät und wärmt sich die Hände. Einige Menschen starren auf den roten Teppich, aber nichts passiert. Langeweile. Die in den Kinos fehlende Werbung wird auf zwei großen Leinwänden übertragen. Wir gehen weiter. Vor dem Hotel Hyatt versammelt sich eine große Menschenmenge; ein kurzes Blitzlichtgewitter startet. Lautes Gekreische. Von Neugier angetrieben, stellen wir uns schnell dazu. Schwarze BMWs und Sicherheitspersonal stehen in dem kleinen abgesperrten Bereich. Eine Tür schließt sich. Aufgeregt lauschen wir den anderen Schaulustigen. Und uns wird klar: Wir haben Hugh Jackman verpasst.
Richard Sachse
Maladies

Alles was da ist, muss von irgend jemandem erschaffen werden, sagt er zu ihr. Sie lächelt zärtlich, mit liebevollem Blick streift sie sein schönes Gesicht, umschließt seine schmalen Hände; es wird ein Pakt geschlossen. Stimmen gibt es viele, sie wühlen sich durch das Innere, schalten sich zwischen alles, lösen sich nicht auf. Drei sind da, füreinander und für sich; manchmal sind es vier, drei werden bleiben, einer geht. Das Freizeichen des Telefons beruhigt den Aufgewühlten, das Schweigen der anderen steht für sich, das Verständnis für alle schwankt; das Rauschen der Wellen hilft nicht immer.
Meike Schudy








Kommentare zu „Schreiben über Film (2): 100-Wörter-Texte“
Ulrich Jank
Kurzkommentar von Hannah Seidel zu "Viola"
Liebe Hannah,
tja, da haben Sie es wirklich geschafft, sich (gezwungenermaßen) mal knapp zu fassen und auch implizit Ihre Wertung zu besagtem Film kundzutun. Chapeau!
Liebe Grüße